Tanz trifft Tod: Ein großangelegtes Vorhaben widmet sich erneut der Pionierin des Ausdruckstanzes Mary Wigman. Patricia Stöckemann über das Kooperationsprojekt „Danse macabre – Totentanz“.

„Die Gräber öffnen sich und geben ihre Toten frei“ – Mit diesen Worten umschreibt die berühmte Protagonistin des modernen Ausdruckstanzes Mary Wigman das Thema ihres Tanzstücks „Totentanz“ aus dem Jahr 1926. Sie knüpft damit an die Tradition volkstümlicher Erzählungen von tanzenden Toten an, die als unerlöste Wiedergänger auf den Friedhöfen zu nächtlicher Stunde ihre grotesken Tänze aufführen. Bis heute ist das Bild des tanzenden Todes mit seiner bis in das Mittelalter zurückreichenden Tradition von ungebrochener Faszination.
Mary Wigmans berühmter „Totentanz“ ist Anlass eines Kooperationsprojekts zwischen vier Osnabrücker Kulturinstitutionen. Während Totentanz-Choreografien von Mary Wigman im Osnabrücker Theater erneut auf die Bühne gebracht werden, widmen sich die Ausstellungshäuser Felix-Nussbaum-Haus, Kunsthalle und Diözesanmuseum jeweils spezifischen Aspekten des Themas Tanz und Tod.

Begleitend werden im Felix-Nussbau-Haus, in der Kunsthalle und im Diözesanmusuem Totentänze vieler Epoche gezeigt.

Nach der erfolgreichen Rekonstruktion von Mary Wigmans „Le Sacre du Printemps“ im Jahr 2013 bringt die Dance Company Osnabrück erneut zwei Choreografien der wegweisenden Vertreterin des modernen Tanzes in Deutschland zur Aufführung: Wigmans Totentänze aus den Jahren 1921 und 1926 bilden zu live gespielter Musik den Auftakt des dreiteiligen Tanzabends DANSE MACABRE.

Patricia Stöckemann, Dramaturgin und Managerin der Dance Company Theater Osnabrück, gewährt einen Blick hinter die Kulissen des von ihr mitinitiierten Projekts.

Ernst Ludwig Kirchner: Totentanz der Mary Wigman (1926)
Ernst Ludwig Kirchner: Totentanz der Mary Wigman (1926)
Felix Nussbaum: Triumph des Todes
Felix Nussbaum: Triumph des Todes

Frau Stöckemann, was reizt Sie daran, die Totentanz-Choreografien von Mary Wigman in Osnabrück auf die Bühne zu bringen?

PATRICIA STÖCKEMANN: Zuallererst die Neugier und der Wunsch zu erleben: Wie könnten diese beiden Choreografien der 1920er Jahre ausgesehen und auf der Bühne gewirkt haben? Was können sie über die Zeit des Ausdruckstanzes vermitteln und über Mary Wigman, die wichtigste Repräsentantin und Wegbereiterin dieser modernen Tanzbewegung?
Anhand von tanzhistorischen Darstellungen, Kritiken, Äußerungen Wigmans oder anhand von Fotos können wir uns nur ein mehr oder weniger oberflächliches, „theoretisches“ Bild davon machen. Aber über den Tanz selbst, seine Bewegungen, Bewegungsqualitäten, seine Choreografien wissen wir nichts. Das Körperwissen, das Wissen um die Technik des modernen Tanzes ist verloren bzw. verschütt gegangen. Es gibt nur wenige Filmaufnahmen aus der Zeit und wenn, dann nur kurze Ausschnitte, wie bspw. aus dem berühmt gewordenen Hexentanz von Mary Wigman (1926). Dieser Hexentanz ist berühmt, weil zwei Minuten daraus filmisch festgehalten wurden und heute auf youtube zu bestaunen sind.
Der Tanz verfügt über kein lebendiges Tanzmuseum, in dem man die Werke alter Meister/innen sehen und studieren könnte. Die flüchtige Kunst des Tanzes ist verschwunden im Moment der Aufführung. Tänzer/innen und Choreograf/innen oder Tanzinteressierte können sich mit ihrem Erbe, mit den Bewegungen, den Choreografien etc. nicht auseinandersetzen, weil es nirgends gespeichert und festgehalten wurde und auch nicht von Tänzergeneration zu Tänzergeneration weitergegeben wurde. Musiker, Komponisten, Literaten, Autoren, bildende Künstler, Maler – sie alle haben die Möglichkeit, die Werke ihrer Vorgänger zu studieren, daran zu lernen, darauf aufzubauen. Es gibt in diesen Künsten ein „Archiv“ (Bibliotheken, Museen…) ein kollektives Gedächtnis, eine Erinnerung. Für den (modernen) Tanz fehlt das. „TANZFONDS ERBE – eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes“ hat genau das erkannt und deshalb den Fonds zur Auseinandersetzung mit dem Tanzerbe ins Leben gerufen.

„Die flüchtige Kunst des Tanzes ist verschwunden im Moment der Aufführung. Tänzer/innen und Choreograf/innen oder Tanzinteressierte können sich mit ihrem Erbe, mit den Bewegungen, den Choreografien etc. nicht auseinandersetzen, weil es nirgends gespeichert und festgehalten wurde …“

Mit der Rekonstruktion von „Le Sacre du Printemps “ haben wir 2013 das letzte Tanzwerk von Mary Wigman wieder auf die Bühne zurückgeholt. Sie hatte dieses große Ensemblewerk 1957 mit der Ballettkompanie der Städtischen Oper Berlin herausgebracht. Diesmal war es unser Anliegen, zwei Stücke aus den 1920er Jahren von Wigman wieder sichtbar zu machen und die „frühe“ Wigman neu zu entdecken, um herauszufinden, was sie als Tänzerin, Choreografin, Pionierin und berühmteste Protagonistin des Ausdruckstanzes der 1920er auszeichnete. Die Rekonstruktion ist ein Forschungsprojekt, bei dem sich das Rekonstruktionsteam unter der künstlerischen Leitung der Choreografin Henrietta Horn zusammen mit Susan Barnett, Katharine Sehnert und Christine Caradec auf archäologische Spurensuche der Bewegungen begibt. Mit dem „Totentanz I“ (1917/1921) und „Totentanz II“ (1926) sollen zwei kleinformatige Werke von Mary Wigman auf die Tanzbühne zurückgebracht werden: „Totentanz I“, der für vier Tänzerinnen zur Musik „Danse Macabre“ von Saint-Saëns konzipiert war und circa sieben Minuten dauert; „Totentanz II“, ein Stück für acht Tänzerinnen zu Schlagwerk-Musik von Will Goetze mit einer Dauer von etwa 15 Minuten.

Was hat das Publikum zu erwarten?

PATRICIA STÖCKEMANN: Einen spannenden dreiteiligen Tanzabend zu live gespielter Musik. Den zwei historischen Totentänzen von Mary Wigman sind zwei zeitgenössische Choreografien dieser Thematik gegenübergestellt: „Supernova“ von Marco Goecke und „Sacre“ von Mauro de Candia zur Musik „Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky in der Fassung für zwei Klaviere. Diese beiden Stücke knüpfen thematisch an die Totentanz-Idee an und stellen sie zugleich in einen heutigen Kontext. Geht es bei Goecke um die existentielle Frage von Sein und Nicht-Sein, so bei de Candia um die dem Sacre-Libretto immanente Todes- und Opferthematik im Hinblick auf unsere heutige Gesellschaft.

„Den zwei historischen Totentänzen von Mary Wigman sind zwei zeitgenössische Choreografien dieser Thematik gegenübergestellt: „Supernova“ von Marco Goecke und „Sacre “ von Mauro de Candia zur Musik „Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky in der Fassung für zwei Klaviere.“

Marco Goecke ist einer der auch international renommiertesten deutschen Choreografen der Gegenwart. „Supernova“ hat er 2009 für das Scapino Ballet in Rotterdam kreiert. Jetzt übernimmt es die Dance Company Theater Osnabrück. Eine Supernova ist das explosive Aufleuchten eines Sterns am Ende seiner Lebenszeit. Marco Goecke versinnbildlicht dieses Ereignis auf der Bühne: das Auftauchen, die Materialisierung und das Verschwinden der Bewegung im schwarzen Nichts.
Mauro de Candia, künstlerischer Leiter der Dance Company, choreografiert für den Tanzabend DANSE MACABRE eine eigene Sacre-Version, eine Uraufführung. Aus der Musik bezog er die Anregung für die Umdeutung des ursprünglichen Szenarios. In seiner Fassung sind wir alle Opfer unserer Gesellschaft, unserer technischen, medialen Errungenschaften. Der rituelle Opfertod wird bei ihm zu einem Tod des eigenen Selbst.

Sie planen ein begleitendes Programm zu diesem Projekt. Was können Sie schon verraten?

PATRICIA STÖCKEMANN: Das Programm zum Auftaktwochenende mit der Premiere des Tanzabends und den Eröffnungen der Ausstellungen im Diözesanmuseum und im Felix-Nussbaum-Haus enthält ein Symposium, das die Ursprünge der Totentänze genauso reflektiert wie auf die Formulierungen der Totentanz-Idee in der darstellenden und bildenden Kunst.
Die Eröffnung der Ausstellung unseres Kooperationspartners Kunsthalle Osnabrück zu dem Thema „Verweile doch (Ein Abgesang)“ findet bereits am 29. Januar 2017 statt.
Ein vielfältiges, noch im Entstehen begriffenes Programm zum DANSE MACABRE bieten die Kooperationspartner von Februar bis Juni 2017 an. Die Informationen finden Sie demnächst auf der website www.dansemacabre-osnabrueck.de

Danse Macabre wird als Kooperationsprojekt mit weiteren Kulturpartnern der Stadt angekündigt. Wie kam es zu dieser Kooperation, was ist der Mehrwert?

PATRICIA STÖCKEMANN: Als Mauro de Candia und ich die Tanzspielzeit 2016/17 planten – und das geschieht für jede Spielzeit ungefähr anderthalb Jahre im Voraus – haben wir den Tanzabend DANSE MACABRE konzipiert und ganz bewusst der Rekonstruktion der beiden Totentänze von Mary Wigman zwei zeitgenössische Choreografien zur Totentanzthematik gegenüber gestellt. Darüber hinaus wollten wir von Anfang an dieses Jahrhunderte umspannende Thema TOTENTANZ, das im alltäglichen Leben (Umgang mit dem Tod, Todesvorstellungen etc.) wie in der Kunst (Musik, Literatur, bildenden Kunst etc.) eine so bedeutende Rolle spielt und immer aktuell ist, in einen größeren Kontext stellen und aus verschiedensten Perspektiven anschaulich machen – zur Diskussion stellen.
Osnabrück bietet sich mit seinen Institutionen geradezu an, wie dem Felix-Nussbaum-Haus (mit seinen Totentanzgemälden von Nussbaum als wichtigen Exponaten und Zeugnissen zu diesem Thema), der Kunsthalle (als ehemalige Kirche und generell Kirche als Ort, an welchen im Mittelalter Totentanzfriese das memento mori predigten) sowie dem Diözesanmuseum (mit seinen Totentanzexponaten) und dem Hohen Dom zu Osnabrück. Wir sind auf diese Institutionen zugegangen und haben gefragt, ob sie mit uns bei diesem Projekt DANSE MACABRE kooperieren würden, um den großen und tief gehenden Zusammenhang des Themas, aber auch der Korrespondenzen der Orte bei diesem Thema aufzuzeigen. Und alle waren von dieser Projektidee angetan und haben ihre Kooperationszusage gegeben.
In den Antrag bei „Tanzfonds Erbe – Eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes“ zur Rekonstruktion der Totentänze von Mary Wigman und den zeitgenössischen „choreografischen Gegenentwürfen“ haben wir den Gesamtzusammenhang unserer Projektidee dargestellt und die Zusagen unserer Kooperationspartner benannt. Diese Kontextualisierung der Totentänze war ganz sicher auch für die Förderzusage mit ausschlaggebend.
Der Mehrwert der Kooperation ist ein inhaltlicher und sich gegenseitig befruchtender Austausch. Aus den Gegebenheiten der jeweiligen Institutionen und der Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern an dem Projekt entsteht etwas Neues, entstehen neue Gedanken, neue Impulse, neue Wege. Und die Stadt wird sicherlich in Ausstellungen, Vorstellungen des Tanzabends, Installationen, Symposium, Vorträgen, Liederabenden, Führungen auch auf Friedhöfen, usw. erleben und diskutieren, welche Bezüge, Aktualität, Gegenwärtigkeit ein jahrhundertaltes Thema wie der Totentanz besitzt.

www.dansemacabre-osnabrueck.de

INTERVIEW: SVEN CHRISTIAN FINKE-ENNEN

DANSE MACABRE – TOTENTANZ
Auftakt mit Symposium vom 10.-12. Februar 2017

Freitag 10.2.17
Priesterseminar, Große Domsfreiheit 5
15:00 – 15:45 Uhr
Prof. Dr. Reiner Sörries: Warum die Toten tanzen. Gedanken zur Geschichte des Totentanzes.
15:45 – 16:15 Uhr
Dr. Katja Schneider: Zum Sterben schön? Der Tod im Tanz
16:45 -17:30 Uhr
Dr. Andrea Amort: Tod, Rausch, Ekstase – Moderne Totentänze im Expressionismus des 20. Jahrhunderts
17:30 – 18:00 Uhr:
Anne Sibylle Schwetter: Und noch immer tanzt der Tod. Der Totentanz in der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts

Hoher Dom zu Osnabrück / Diözesanmuseum
19:30 Uhr
Liturgischer Impuls mit Bischof Dr. Franz-Josef Bode im Hohen Dom zu Osnabrück zur Eröffnung der Ausstellung „Im Angesicht des Todes. Begegnung zwischen Schicksal und Hoffnung“ des Diözesanmuseums Osnabrück. Musikalisch mitgestaltet durch die Dommusik.

Samstag 11.2.17
Theater am Domhof, Oberes Foyer
15:00 – 15:45 Uhr
Dr. Hedwig Müller: Das Motiv des Todes in Mary Wigmans Werk
16:00 – 17:30 Uhr
Podiumsgespräch zum Tanzabend DANSE MACABRE
Henrietta Horn, Susan Barnett, Frank Lorenz (Schlagzeuger)
Über die Rekonstruktion der Totentänze von Mary Wigman
Marco Goecke, Mauro de Candia, Denis Proshayev (Pianist)
Über choreografische Entwürfe eines zeitgenössischen Totentanzes
Moderation: Dr. Patricia Stöckemann und Dr. Katja Schneider
19:00 Uhr
Einführung zum Tanzabend DANSE MACABRE für Premierenpublikum
19:30 Uhr
Premiere DANSE MACABRE
Mary Wigman/Marco Goecke/Mauro de Candia

Sonntag 12.2.17
Felix-Nussbaum-Haus, Lotterstraße 2
11:30 Uhr
Eröffnung der Ausstellung „Danse Macabre. Tanz und Tod in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts“
Einführung Dr. Wolfgang Henze und Anne Sibylle Schwetter
Musikalischer Beitrag von Peter Finger, Vertonung der Ballade Der Totentanz von Johann Wolfgang von Goethe für Gitarre